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Der sechste Streik in drei Jahren

Ein Rückblick auf SchülerInnenproteste in Berlin seit 2006

Vor ziemlich genau drei Jahren, am Anfang des Sommers 2006, trafen sich Berliner Sch�lerInnen in einem dunklen Besprechungsraum des Schulamts im Rathaus Friedrichshain. Ihre Idee war simpel: ein Schulstreik. Doch angesichts der geringen politischen Erfahrung der etwa ein Dutzend jungen AktivistInnen war die Umsetzung dieser Idee wesentlich komplizierter. Die Situation an Berlins Schulen hatte sich seit Jahren verschlechtert und Klassen mit 35 Sch�lerInnen sowie 10%iger Unterrichtsausfall waren f�r viele zur Norm geworden � doch w�rde das reichen, um viele Sch�lerInnen auf die Stra�e zu bringen?

Der Schulstreik war, in den Worten Bertolt Brechts, "das Einfache, das schwer zu machen ist." Nach langen Diskussionen einigte sich die Sch�lerInneninitiative, die sich "Bildungsblockaden einrei�en!" nannte, auf einen Streikaufruf f�r den 13. September, d.h. in der Woche vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus.

Wo kamen sie alle her?

Noch am Abend vor dem Schulstreik meldete sich Flo (16), einer der Gr�nderInnen vom Sch�lerb�ndnis, bei der Pressegruppe: "Warum habt ihr geschrieben, dass Tausende Leute erwartet werden?" Flo w�re schon froh, wenn mindestens 1.000 Sch�ler sich am Streik beteiligen w�rden.

Aber am n�chsten Morgen waren bei der spontanen Zufuhrdemo um 9 Uhr morgens, die von der Eberswalder Stra�e zum Alexanderplatz lief, schon 800 Sch�lerInnen dabei. Bei der Kundgebung vor dem Roten Rathaus waren es mindestens 10.000.

Dieser unerwartete Erfolg, der gr��te Schulstreik seit dem Beginn des Irak-Krieges am 20. M�rz 2003, war der Ansto�f�r viele weitere Proteste. Aimo Belling, damaliger Pressesprecher von "Bildungsblockaden einrei�en, meint r�ckblickend: "Dass auf unsere Initiative bundesweite Schul- und Unistreiks folgen k�nnten, die die Chance haben, eine Bewegung anzusto�en, hat damals wohl keiner von uns gedacht."

Ein halbes Jahr sp�ter, im April 2007, riefen Berliner Gewerkschaften, vor allem die GEW, zu einer "Workparade" f�r mehr Ausbildungspl�tze auf. Ihr Mobilisierungskonzept beschr�nkte sich allerdings darauf, Flyer an die Schulen zu verschicken und zu hoffen, dass Lehrer ihre Klassen zum Protest mitnehmen w�rden. Das Sch�lerInnenb�ndnis entschied sich, diese Gewerkschaftskundgebung mit einem Schulstreik zu erg�nzen. Trotz einer Mobilisierungszeit von nur drei Wochen kamen erneut rund 5.000 Sch�lerInnen.

Bundesweite Ans�tze

Nicht nur in Berlin fanden in dieser Zeit Schulstreiks statt. Am 29. September 2006 in Dresden oder am 12. Dezember in Potsdam gingen ebenfalls tausende Sch�lerInnen auf die Stra�e � Bildungsspolitik ist L�ndersache, und obwohl jedes Land besondere Probleme aufwies, waren die gro�en Probleme (wie die soziale Selektion im dreigliedrigen Schulsystem) bundesweit die gleichen.

Vor diesem Hintergrund lancierte eine Sch�lerInnengruppe aus T�bigen Anfang 2008 einen Aufruf zum "bundesweiten Schulstreik". Da es in der BRD keinerlei bundesweite Sch�lerInnenstrukturen gibt � von der zahnlosen "Bundessch�lerkonferenz" mal abgesehen � war es ein ambitionierter Vorschlag. Aber am 22. Mai 2008 in Berlin und am 12. Juni in zehn weiteren St�dten gingen 30.000 Sch�ler beim ersten (zumindest ansatzweise) bundesweiten Schulstreik auf die Stra�e.

F�r November 2008 wurde dann ein richtiger bundesweiter Streik angesetzt. Sch�lerInnenaktivisten reisten durch die BRD, ein bundesweiter Sch�lerInnenkongress fand in Berlin statt und Sch�lerInnenb�ndnisse schossen in Dutzenden St�dten aus dem Boden. Am 12. November waren es laut den Organisatoren 100.000 junge Menschen, die in mindestens 43 St�dten den Unterricht verweigerten (darunter waren aber leider kaum Studierende). Die b�rgerliche Presse lenkte von der Gr��e dieser Proteste ab, in dem sie sich auf die kurzzeitige Besetzung der Humboldt-Universit�t (und die bedauerliche Besch�digung einer Ausstellung �ber j�dische UnternehmerInnen unter dem Faschismus) konzentrierte. Doch nicht nur an diesem Tag waren aktive Sch�lerInnen mit Repression konfrontiert. SchulleiterInnen drohten mit Fehltagen und die Polizei pr�gelte immer wieder auf junge Sch�lerInnen ein.

Diese Proteste ver�nderten nach und nach das Bewusstsein vieler Sch�lerInnen. Als im Juni 2008 die zentrale Pr�fung zum "Mittleren Schulabschluss" (MSA) wegen b�rokratischer Vers�umnisse wiederholt werden sollte, kursierte sofort ein neuer Aufruf zum Schulstreik � und innerhalb von vier Tagen versammelten sich 3.000 vor dem Roten Rathaus!

Nicht allein

Von Anfang an gab es gro�e Anstrengungen, die Sch�lerInnenproteste mit Protesten von LehrerInnen und ArbeiterInnen allgemein zu verbinden. Schon beim ersten Schulstreik gab es eine gemeinsame Presseerkl�rung von Sch�lerInnen und streikenden KrankenpflegerInnen vom Charit�-Krankenhaus. Carsten Becker von der ver.di-Betriebsgruppe an der Charit� hielt eine Gru�botschaft auf der Sch�lerInnendemo, und eine Delegation von "Bildungsblockaden einrei�en!" besuchte die Streikposten der KrankenpflegerInnen. Einen Monat sp�ter gab es einen Jugendblock mit 1.000 TeilnehmerInnen auf einer DGB-Demo gegen Sozialabbau.

Aber besonders beim bundesweiten Schulstreik im November 2008 gab es Bem�hungen, einen gemeinsamen Streik von Sch�lerInnen und LehrerInnen hinzubekommen: Wegen eines Tarifstreits im �ffentlichen Dienst Berlins waren die angestellten LehrerInnen am gleichen Tag wie ihre Sch�lerInnen im Ausstand. Auch hier gab es gegenseitige Solidarit�tserkl�rungen. Aber die linksradikalen Gruppen (vor allem Autonome), die das Berliner Sch�lerInnenb�ndnis kontrollierten, wollten nicht so wirklich gemeinsam mit den Gewerkschaften demonstrieren � und die Gewertkschaftsf�hrungen umgekehrt genauso wenig. So kam es zu getrennten Demonstrationen.

Sp�testens mit dem Erfolg des bundesweiten Schulstreiks schmiss ausnahmslos jede Gruppierung der radikalen Linken sich voll in die Organisierung von Bildungsprotesten hinein. Die linksradikalen Kader brachten viel Erfahrung aber auch die gew�hnlichen Grabenk�mpfe mit sich, und das erschien f�r viele Sch�lerInnen und Studierende befremdlich. Glaubte mensch den endlosen DIskussionen auf den B�ndnisplena und den Email-Verteilern, war es mal die trotzkistische SAV, mal war es der Linkspartei-nahe LINKE.SDS, mal irgendeine andere Organisation, die alles kontrollieren und damit kaputt machen wollten. So kam es zu Spaltungen und auch zu sehr unproduktiven bundesweiten Treffen � in den Jahren des Protestes gab es nur die wenigsten bundesweiten Resolutionen oder �hnliches, aber daf�r gab es endlose und ziellose Strukturdiskussionen.

�berhaupt stehen die Strukturen der Bildungsstreiks in keinerlei Verh�ltnis zur Gr��e der Proteste: bei den bundesweiten Treffen kamen h�chstens 200 zusammen (die in der Regel frustriert nach Hause gingen) � rein rechnerisch muss jedeR von ihnen mindestens 1.000 andere Menschen mobilisiert haben! Auch in den St�dten mit den gr��ten Demonstrationen (etwa Berlin, Hannover oder Hamburg) gab es in den seltensten F�llen B�ndnisse mit mehr als 50 TeilnehmerInnen. Das zeigt die breite, spontane Mobilisierung an der Basis, die die OrganisatorInnen immer wieder �berrascht.

Wie weiter?

Der Bildungsstreik 2009, wie die Sch�lerInnenproteste davor, bringt eine unberechenbare Dynamik mit sich. Diesmal rufen auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und sogar Berliner Hochschulrektoren zum Protest auf. Die Solidarit�t von Seiten der ArbeiterInnenbewegung war nie so gro� � aber es wird sich zeigen, ob die Gewerkschaften wirklich ihre Mitglieder mobilisieren oder nur Alibisolidarit�t zeigen.

Die Bildungsproteste, die mit einer kleinen Gruppe Sch�lerInnen im Rathaus Friedrichshain begannen, werden zweifellos f�r weitere �berraschungen sorgen.

//von Wladek Flakin //Eine k�rzere Version dieses Artikels erschien in der Bildungsstreik-Beilage der jungen Welt //der Artikel erschien auch auf Indymedia

 

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